Ein Gemälde, Darstellung einer monströsen Figur

Komplex vs. kompliziert: Ein Zeichen von Cleverness?

Phänomene, Situationen oder auch (technische) Systeme werden häufig danach unterschieden, ob sie komplex oder kompliziert seien. Eine Einordnung als „komplex“ ist dann eine Art Auszeichnung, die verspricht, dass ein derartiges Phänomen einer ganz besonderen Aufmerksamkeit bedarf. Wozu die Unterscheidung nach „komplex“ oder „kompliziert“ gemacht wird ist unterschiedlich und wird unter Umständen gar nicht explizit erläutert.

Erlebnisbericht mit anerkannten Akademikern

Ein dazu passendes Erlebnis habe ich noch in lebendiger (wenn auch im Detail nicht in präziser) Erinnerung: Während eines Seminars im Jahr 2011 (oder 12) an der University of Warwick in Coventry mit Steve Vargo[1]Einer der einflussreichsten Akademiker im Bereich „Service Dominant Logic“. Dies ist eine seiner wichtigsten Veröffentlichungen: Stephen L. Vargo and Robert F. Lusch (2004): Evolving to a new … Continue reading und Irene Ng[2]Ebenfalls eine der prominenten Akademiker in diesem Feld, dies ist eine ihrer Veröffentlichungen: Irene C. L. Ng, Glenn C. Parry, L. Smith, Roger Maull, G. Briscoe (2012): Transitioning from a … Continue reading, das mein Post-Doc und ich dankenswerter besuchen durften kam eben diese Unterscheidung zwischen „nur kompliziert“ und „respekteinflößend komplex“ zur Sprache[3]Keine Zitate, sondern etwas pointierte Auslegungen meiner Erinnerung.. Als kompliziert wurde unter anderem das Unterfangen mit dem Space Shuttle ins All zu fliegen eingeordnet, das Erziehen eines Kindes hingegen sei komplex. Als Anhaltpunkt diente so in etwa: „…hat mit Menschen zu tun – ist komplex!“. Während wir (Menschen) nun in komplizierten Dingen richtig gut seien, hätten wir mit komplexen Zusammenhängen doch so unsere Probleme.

Diane Vaughan (1997): The Challenger launch decision. Risky technology, culture, and deviance at NASA. Pbk. ed. Chicago, Ill., USA: University of Chicago Press.

Während ich letzterem nicht widersprechen wollte, fand ich als Luft- und Raumfahrtingenieur die Einordnung einer Space Shuttle Mission als „nur kompliziert“ überraschend. Also habe ich mich während der Fragestunde am Ende getraut und nach etwas Erläuterung gebeten bezüglich der Beobachtung, dass zwei Space Shuttles bei ihrer – als kompliziert eingeordneten – Mission zerstört wurden[4]Challenger (1986) und Columbia (2003). Zur Explosion der Challenger empfehle ich das oben abgebildete Buch von Diane Vaughan..

Meine Hoffnung war darüber den Qualitätsunterschied zwischen kompliziert und komplex besser verstehen zu können. Oder über eine genauere Einordnung des Space Shuttle Fluges unterschiedliche Sichtweisen auf das Phänomen „Space Shuttel Mission“ in Erfahrung zu bringen – z.B. so etwas wie „ein Space Shuttle zu entwerfen und zu bauen ist kompliziert, in die Erdumlaufbahn zu fliegen und sicher wieder zur Erde zurückzukehren ist hingegen schon komplex, weil…“ .

Diese Hoffnungen erfüllten sich allerdings nicht, die Antwort beschränkte sich lapidar auf etwas wie „…so eine Frage ist uns noch nie gestellt worden…“. Das war schon enttäuschend, da im Seminar vorher so viel Wert auf den Unterschied zwischen „komplex“ und „kompliziert“ gelegt wurde.

Geht es gar nicht um das „Phänomen“?

Bei meinem Post-Doc und mir hegte sich der Verdacht, dass es bei der Kategorisierung von Phänomenen in „komplex“ oder „kompliziert“ unter Umständen weniger um das Phänomen selbst geht, sondern viel mehr um diejenigen, die diese Kategorisierung vornehmen. Wobei deutlich gemacht wird, dass es eben besonders clevere Individuen sind, die

  1. in der Lage sind den Unterschied zwischen „komplex“ und „kompliziert“ zu erkennen und festzulegen und
  2. kompetent sind komplexe Phänomene erfolgreich zu meistern (falls überhaupt irgendjemand).

Was mir aber nicht klar wurde ist wem sonst die Unterscheidung der Begriffe „komplex“ und „kompliziert“ eigentlich wozu nützt. Während ich die Motivation von Wissenschaftlern für eine gut begründete und klar abgegrenzte begriffliche Kategorisierung von Phänomenen als „komplex“ – wie z.B. bei Charles Parrow[5]Charles Perrow (1984): „Complex interactions are those of unfamiliar sequences, or unplanned and unexpected sequences, and either not visible or not immediately comprehensible. […] … Continue reading – nachvollziehen kann, blieb für mich bis vor einiger Zeit doch eine erhebliche Abneigung gegen die Verwendung dieses Begriffs.

Entdeckung der Anwendbarkeit

Erst, als ich im Rahmen einer Fortbildung zum Agile Coach und Scrum Master den Cynefin-Ansatz und eine Interpretation davon kennenlernte[6]Tatsächlich erschien mir im ersten Moment, und erscheint mir auch weiterhin die einfache Form des Cynefin Modells als kaum nachvollziehbar und übersimplifiziert. Ein Blogeintrag, der sich mit dem … Continue reading, schloss sich für mich die Lücke zwischen der Kategorisierung eines Phänomens (z.B. als komplex oder kompliziert) und greifbaren Auswirkungen auf den Umgang damit. Daraus ergibt sich nämlich, dass komplizierte Probleme mit der Anwendung von bekanntem Spezialistenwissen und -methoden zu lösen sind, komplexe Situationen es aber erfordern kontinuierlich neues Wissen zu generieren, zu berücksichtigen und anzuwenden. Damit wird nicht die bloße Unterscheidung der Schlüssel zum erfolgreichen Umgang mit den jeweiligen Phänomenen, sondern die Folgerung, dass die Anwendung konkreter Methoden (z.B. Scrum oder anerkanntes und bestehendes Expertenwissen) geeignet oder weniger angemessen sind.

Probleme sind lieber komplex als simpel

Auch heute regt sich bei mir Misstrauen, wenn „Komplexität“ als Erklärung (oder als Grund für Nicht-Erklärbarkeit) von Situationen angeführt wird, ohne dass eine Unterscheidung zu anderen Situationsarten möglich wäre – wer ist schon mit simplen Problemen konfrontiert ?

Titelbild: Unsere fragile Moderne: Der Hausengel (Jürgen Thenent, nach Ernst)

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References

References
1 Einer der einflussreichsten Akademiker im Bereich „Service Dominant Logic“. Dies ist eine seiner wichtigsten Veröffentlichungen: Stephen L. Vargo and Robert F. Lusch (2004): Evolving to a new dominant logic for marketing. In J Marketing 68 (1), pp. 1–17.
2 Ebenfalls eine der prominenten Akademiker in diesem Feld, dies ist eine ihrer Veröffentlichungen: Irene C. L. Ng, Glenn C. Parry, L. Smith, Roger Maull, G. Briscoe (2012): Transitioning from a goods-dominant to a service-dominant logic. Visualising the value proposition of Rolls-Royce. In J Serv Manage 23 (3), pp. 416–439.
3 Keine Zitate, sondern etwas pointierte Auslegungen meiner Erinnerung.
4 Challenger (1986) und Columbia (2003). Zur Explosion der Challenger empfehle ich das oben abgebildete Buch von Diane Vaughan.
5 Charles Perrow (1984): „Complex interactions are those of unfamiliar sequences, or unplanned and unexpected sequences, and either not visible or not immediately comprehensible. […] ‚Complex‘ should read ‚interactions in an unexpected sequence'“ in: Normal accidents. Living with high-risk technologies. with a new afterword and a postscript on the Y2K problem. Princeton, NJ: Princeton University Press.
6 Tatsächlich erschien mir im ersten Moment, und erscheint mir auch weiterhin die einfache Form des Cynefin Modells als kaum nachvollziehbar und übersimplifiziert. Ein Blogeintrag, der sich mit dem Cynefin und der, ebenfalls in meiner Fortbildung thematisierten Stacey-Matrix befasst ist hier zu finden. Darin wird übrigens auch das Beispiel eines Raketenstarts als kompliziertes Problem gestreift.

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