Komplex oder Kompliziert?

Große Herausforderungen kommen oft in zwei ganz unterschiedlichen Formen daher. Wir nennen diese oft „komplexe Probleme“ oder „komplizierte Probleme“. Was ist da eigentlich der Unterschied?

Ein gutes Beispiel dafür nennt Norbert Wiener in „Cybernetics or control and communication in the animal and the machine“[1]Wiener, Norbert (1982): Cybernetics or control and communication in the animal and the machine. 2. ed., 3. printing. Cambridge, Mass.: MIT Press.. Was ist der Unterschied, so seine Frage, zwischen der Astronomie und der Meteorologie? Da sich beide mit „himmlischen“ Phänomen beschäftigen, könnte man meinen, dass es große Ähnlichkeiten gibt. Schaut man etwas genauer hin, stellt man aber fest, dass die Astronomie heutzutage die Bewegung von Himmelskörpern teilweise Millionen Jahre im voraus (und zurück) berechnen kann, während die Meteorologie nach wie vor Probleme hat, das Wetter für morgen treffend vorauszusagen. Wiener stellt heraus, dass die Astronomie sich mit vornehmlich mit einzelnen, diskreten, sehr weit voneinander entfernten Körpern beschäftigt, deren Bewegungen sich gut berechnen lassen. Dagegen sind die wirksamen Variablen in der Meteorologie nahezu unbegrenzt und diskreete, berechenbare Objekte (einzelne Wolken oder Regentropfen) sind im Grunde nicht auszumachen.

Kepler-413b
Beispiel für ein „kompliziertes“ Problem: Die Bewegungen von großen Objekten wie Planeten und Sternen sind gut berechenbar [2]Quelle: NASA (nasa.gov) .
Sonne, Wolken und Regen über einer Landschaft
Beispiel für ein „komplexes“ Problem: im Wechselspiel von Wärme, Wind und Feuchtigkeit lässt sich das Wetter meist nur für kurze Zeit im Voraus berechnen [3]Foto: Johannes Plenio, Pexels.

Ein anderes Beispiel: eine militärische Kampagne. Steven Rotkoff (Oberst der US-Armee im Ruhestand) beschreibt in der BBC-Sendung „Sideways“ die Effektivität einer Militärdoktrin im 2. Irakkrieg (2003)[4]Matthew Syed (2021): Sideways: Looping the Loop. BBC, 08.03.2021. Online verfügbar unter https://www.bbc.co.uk/programmes/m000sr4s, zuletzt geprüft am 06.07.2021.. Eine direkte militärische Konfrontation besteht weitgehend aus diskreten Objekten: Waffensysteme, Sprengkörper, Soldaten, Hindernisse. Im abgegrenzten Gefecht zweier Armeen läuft dies, so Rotkoff, auf ein mathematisches Problem heraus – beide Seiten versuchen ihre Ressourcen möglichst effektiv anzuwenden, um den Gegner auszuschalten. Die US-Doktrin dieser Zeit beherrschte diese Art von Problem gut und nach nur 2 Monaten wurde der Krieg für beendet erklärt. Nach Kriegsende ging der Konflikt aber weiter, viel weniger berechenbar und weniger erfolgreich – was zu fast 10 Jahren Besatzung mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte.

Rotkoff nennt die mathematisch beherrschbaren Probleme „komplizierte Probleme“ („complicated problems“), im Gegensatz zu kaum berechenbaren „komplexen Problemen“ („complex problems“). Vergleichbar lässt sich die Berechnung von astronomischen Objekten als eher „kompliziert“ beschreiben, wohingegen die Berechnung des Wetters von morgen eher „komplex“ ist.

Ich möchte ein eigenes Beispiel geben aus der Entwicklung von Software, genauer: von Informations-Systemen. Programmierung von Software ist ein geradezu ideales Beispiel für ein kompliziertes Problem: jede Zeile Code löst ein kleines, mathematisches Problem. Professionelle Software-Lösungen mit millionen Zeilen Code sind selbst für die besten Entwickler nicht im Ganzen überschauber, aber im Kern immernoch Mathematik. Informations-Systeme bestehen aber nicht nur aus Technik, sondern zu einem großen Teil aus Menschen. Benutzer sitzen davor und arbeiten am System, Auftraggeber haben bestimmte Vorstellung von Funktion und Leistungsfähigkeit des Systems. Diese Fragestellungen sind „komplex“. Es müssen tieferliegende Erwartungen aufgedeckt, Entscheidungen eingeholt, Überzeugungsarbeit geleistet und oft genug Kompromisse gefunden werden.

Warum ist diese Unterscheidung wichtig? Wohin führt uns diese Frage (oder hat sie uns schon geführt)? Was hat dies mit agilen Methoden und mit Design Thinking zu tun?

Dazu mehr in zukünftigen Beiträgen.

(Titelbild von Jezael Melgoza, Unsplash)

References

References
1 Wiener, Norbert (1982): Cybernetics or control and communication in the animal and the machine. 2. ed., 3. printing. Cambridge, Mass.: MIT Press.
2 Quelle: NASA (nasa.gov)
3 Foto: Johannes Plenio, Pexels
4 Matthew Syed (2021): Sideways: Looping the Loop. BBC, 08.03.2021. Online verfügbar unter https://www.bbc.co.uk/programmes/m000sr4s, zuletzt geprüft am 06.07.2021.

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