Spiel – Horror – Erkenntnis

Gianni Ventrella entwickelt Gesellschaftsspiele. Ich habe ihn 2013 kennengelernt, als er gerade sein erstes Kartenspiel veröffentlicht hatte. Seitdem hatte ich die Möglichkeit, ihm regelmäßig bei der Spiele-Entwicklung über die Schulter zu schauen. Ich stellte fest, dass Spiele entwickeln eine sehr methodische Angelegenheit ist: Kreativtechnik, Prototypen, unzählige Tests, bis hin zur Produktion von Spielmaterial. 2020 veröffentlichte Gianni sein Meisterwerk „Scherbenfresser“, ein ebenso spannendes wie unterhaltsames Erzählspiel irgendwo zwischen Thriller und Horror. Seitdem wollte ich unbedingt mit Gianni über „Methods and Meaning“ der Spielentwicklung sprechen.

Gianni Ventrella ist Spielentwickler (Bild mit freundlicher Genehmigung von Gianni Ventrella)

Gianni, das Wort „spielen“ umfasst heute so unglaublich viel. Wir „spielen“ Gesellschaftsspiele, Computerspiele, Theater oder Musik – auch Kinder „spielen“.
Aus deiner Sicht als Spielentwickler: Warum spielen wir?

Als Spielentwickler fällt mir etwas Interessantes bei mir selbst auf. Manchmal, wenn ich ein Spiel spiele, rutsche ich in die Spielentwickler-Rolle und spiele sozusagen mit den Spiel-Mechanismen in meinem Kopf: Was könnte ich aus diesem Spiel machen, wie hätte ich dieses Spiel anders gestaltet?

Deshalb beantworte ich dir mal die Frage so rum. Warum entwickle ich gerne Spiele?

Spiele zu entwickeln ist für mich schon selbst ein Spiel. Ich spiele mit den Instrumenten, mit Mechanismen die ich kenne, mit Motivationen die Menschen haben können. Was im Endeffekt passiert – was dann auch für mich die Definition von Spielen ist: Ich kann experimentieren, in einem sicheren Feld. Ich kann die Kontrolle übernehmen, ich kann meiner Kreativität freien Lauf lassen, ich kann Dinge erreichen, ich kann wachsen, ich kann größer werden. Ich designe auch gern Spiele in Teams oder tausche mich mit anderen Spieleautoren aus. Wir testen gemeinsam Prototypen, machen gemeinsam Brainstorming dazu. Das ist auch ein Faktor: Dass man in einer Gemeinschaft gemeinsam spielt, dieser Austausch.

Das sind die Dinge, die mich zum Entwickeln bringen, die mir daran Freude machen und ich glaube, das sind auch die Gründe, warum Menschen gerne spielen.

Was für mich die Definition von „Spielen“ ist:
Ich kann experimentieren, in einem sicheren Feld. Ich kann die Kontrolle übernehmen, ich kann meiner Kreativität freien Lauf lassen, ich kann Dinge erreichen, ich kann wachsen, ich kann größer werden. Auch ein Faktor: Dass man in einer Gemeinschaft gemeinsam spielt,

Was du beschreibst, ist ein ganz kreativer Prozess. Bei den Gesellschaftsspielen, die du auch entwickelst, gibt es aber sehr klare Spielregeln. Das unterscheidet sich für mich etwas von dem, was du beschreibst: Das freie, kreative Ausprobieren.

Grundsätzlich gibt es das freie Spiel, dass wir als kleinste Kinder schon machen und auch oft im Berufsleben, wobei wir z. B. bestimmte Rollen einnehmen. Da ist eigentlich die zentrale Regel, dass wir in der Rolle bleiben und sonst haben wir weniger abstrakte Regeln.

Dann gibt es die Regel-Spiele, von denen du jetzt gesprochen hast, im Sinne von Gesellschaftsspielen, bei denen die Regel das zentrale Konstrukt ist, um das wir uns drehen und nicht die Rollen.
In dem Sinne folge auch ich Regeln beim Spieldesign. Die sind natürlich freier. Man müsste die sich mal ganz bewusst machen. Das ist schon interessant, nach welchem Regel-Set man da vorgeht. Innerhalb des Rahmens ist es natürlich ein sehr kreativer Prozess. Aber das ist es bei Gesellschaftsspielen auch oft, z. B. wenn es darum geht, im Team kreative Lösungen zu finden oder bei komplexen Strategiespielen, bei denen es viele Wege ans Ziel gibt.

Dein Spiel „Scherbenfresser“ ist ein Erzählspiel. Kannst du uns erklären, was ein Erzählspiel ist und was diese Form des Spiels für dich als Spielentwickler so interessant macht?

Ich lege mal eine Definition an, die ich vertrete, die auch verhältnismäßig verbreitet ist:
Erzählspiele sind Gesellschaftsspiele, die auf Regeln basieren, in der Gruppe gespielt werden und bei denen die Erzählung einer Geschichte mindestens genauso im Fokus steht, wie das Befolgen bestimmter Regeln dabei.

Ist ein Erzählspiel das Gleiche wie ein Rollenspiel?

Für mich nicht. Deshalb mag ich die Differenzierung auch, damit der angesprochene Mensch weiß, wo er sich aufhält und womit er zu rechnen hat. Ich habe eine ganz andere Erwartungshaltung, wenn ich mich zum Rollenspiel an den Tisch setzte, im Gegensatz zum Erzählspiel.

Bei einem Erzählspiel erwarte ich, dass ich viel mehr Einfluss auf die ganze Geschichte habe. Bei einem klassischen Rollenspiel, wie das Wort schon sagt, übernehme ich meine Rolle, wenn ich Spieler oder Spielerin bin – wenn ich die Spielleitung bin, dann leite ich hauptsächlich die Story. In einem Erzählspiel überschneidet sich das meiner Definition nach.

So, dass alle Teilnehmenden die Geschichte mitgestalten.

Genau.

„Scherbenfresser“ ist ein ebenso spannendes wie unterhaltsames Erzählspiel irgendwo zwischen Thriller und Horror (Bild mit freundlicher Genehmigung von Gianni Ventrella)

„Scherbenfresser“ enthält Elemente des Horror-Genres. Nicht, weil es um Monster oder Zombies ginge, sondern weil man sich mit eigenen Ängsten und denen der Mitspieler konfrontiert und daraus eine Geschichte entsteht – die oft in einer Katastrophe endet. Das Spiel entwickelt dadurch eine erstaunliche Tiefe.
Was hat dich animiert, ein Spiel mit so anspruchsvollem Hintergrund zu entwickeln?

Ja, die Geschichte endet oft in einer Katastrophe – aber zum Glück kann man den Scherbenfresser auch überwinden, wenn Teamgeist und Zufall es so wollen. Aber trotzdem, wie du schon gesagt hast, entwickelt sich oft eine emotionale Tiefe, unabhängig davon wie es ausgeht.

Mich haben Erfahrungen aus der Realität im Endeffekt dazu gebracht, das Spiel zu entwickeln. Ich habe eine Weile mit geflüchteten Menschen gearbeitet, die aus kriegsähnlichen Zuständen geflüchtet sind. Die Gespräche, die ich mit diesen Menschen geführt habe, haben mich auf verschiedenen Ebenen, professionell und emotional, nicht mehr so schnell losgelassen und ich habe einen Weg der Verarbeitung gesucht. Da sind wir wieder bei der Definition von Spielen oder auch was man mit Spielen machen kann.

Für mich ist das eine Coping-Strategie: Wenn ich mit etwas umgehen muss, das größer ist als ich, dann versuchen ich es zu durchdringen, so dass ich es in Mechanismen packen kann. Also, ich versuche den Mechanismus dahinter zu verstehen, was ein Trauma auslöst, wie eine posttraumatische Belastungsstörung ausgelöst wird, wie sie überwunden werden kann. Vor allem, was in meinem beruflichen Kontext eine Rolle gespielt hat, wie die Gemeinschaft mit solchen Phänomenen umgehen und diese überwinden kann.

Ich versuche den Mechanismus dahinter zu verstehen. Zum Beispiel, was ein Trauma auslöst oder eine posttraumatische Belastungsstörung. Vor allem, wie die Gemeinschaft mit solchen Phänomenen umgehen und diese überwinden kann.

Konfrontation mit eigenen Ängsten kann Spannung erzeugen, kann je nach Thema und Intensität für manche Spieler aber auch sehr unangenehm sein und sogar zu Panik führen.
Wie gelingt dir die Balance, einerseits Spannung zu erzeugen, anderseits aber unangenehme Situation zu verhindern – und gleichzeitig noch gute Unterhaltung zu bieten?

Guter Horror kann einen neuen Rahmen schaffen, in dem diese Ängste stattfinden, die aber nicht ohne weiteres auf die Realität zu transferieren sind. Zum Beispiel kann ich die reale Angst davor haben, einen bestimmten Ton zu hören, weil es mich an einen militärischen Angriff erinnert. Das wäre die reale Sache. Wenn ich aber ein Spiel spiele, in dem ich auf einem fremden Planeten gestrandet bin und wir es mit einer gefährlichen, außerirdischen Lebensform zu tun haben, können dadurch auch viele Ängste ausgelöst werden. Diese sind aber auf unsere Realität nicht ohne weiteres übertragbar. Ich glaube, das ist ein wichtiger Schlüssel, um Horror in Spielen auszuleben.

Ein anderes wichtiges Standbein ist, dass die Rollen- und Erzählspiel-Szene auch schon Instrumente entwickelt hat, die ich im Scherbenfresser-Buch auch beschreibe. Ein Beispiel ist die X-Karte. Dies ist ein Sicherheits-Instrument. Man legt eine Karte auf den Tisch und ein Spieler, der sich bei einem Thema unwohl fühlt, der tippt darauf und signalisiert allen anderen damit: „Bitte, lasst uns das Thema wechseln“. Von diesen zwei Seiten komme ich her und das hat in allen Fällen bisher funktioniert.

Bei Gesellschaftsspielen steht sicher für die meisten Menschen der Unterhaltungswert im Vordergrund. Du experimentierst mit deinen letzten Spielideen aber stark im Bereich von Selbstreflexion und Selbsterkenntnis. Was können Spiele in diese Richtung „leisten“?

Ich möchte einen Freund von mir zitieren, der auch Gamedesign macht:
„Wir sind hier zum Spielen und nicht zum Spaß haben.“

Auf jeden Fall erstmal lustig, weil es diesen offensichtlichen Widerspruch hat. Aber in dem Spruch steckt viel drin. Zum einen das Verständnis von Spaß. Was bedeutet es überhaupt Spaß zu haben? Ist Spaß denn immer lachen und freudig miteinander sein, oder kann man auch Spaß dabei haben, wenn man ernste oder berührende Situationen erlebt?
Ich bin der Meinung, dass Spaß vieles sein kann, und dass es eben nicht nur feuchtfröhliche Runden sein müssen, wobei ich die auch mag. Aber ich erlebe auch, vielleicht ist dann „Freude“ das richtige Wort, wenn ich mit anderen Menschen intensive Momente erlebe.

Ist Spaß denn immer lachen und freudig miteinander sein, oder kann man auch Spaß dabei haben, wenn man ernste oder berührende Situation erlebt?

Ich habe einige Erzählspiele mit Horror-Hintergrund gespielt. Das waren wohl die spannendsten Spiele-Abende, an die ich mich erinnern kann.
Passen Erzählspiel und Horror einfach gut zusammen?

Ich glaube schon, und wichtig ist auch noch etwas anderes. Horror ist für Erzählspiele ganz interessant, weil es die Grund-Emotion „Angst“ auslöst und diese nur in Konfliktsituationen Sinn macht. Das heißt, dass Horror schon immer einen Grundkonflikt mitbringt, um den ich mich dann im Laufe der Story kümmern kann. Jede Geschichte braucht einen Konflikt und deshalb ist Horror ganz praktisch. Zum einen, weil ich auf der menschlichen Ebene bei einer starken Emotion bin. Auf der anderen Seite brauche ich einen Grundkonflikt, um Horror zu transportieren und jede Story braucht das wiederum auch, um zu funktionieren.

Ich möchte nochmal auf den Punkt Selbstreflexion/Selbsterkenntnis kommen und dieses Spiel mit den eigenen Ängsten. Wie bringst du diese Themen in dein Spiel ein? Welche Rolle spielen sie in den Geschichten, die man mit Scherbenfresser erlebt?

Also, Scherbenfresser versucht dich in eine Situation zu führen, in der du Selbsterkenntnis und -reflexion sozusagen simulierst – nämlich von der Person, dessen Rolle du übernimmst. Das spielt eine wichtige Rolle, weil Scherbenfresser so angelegt ist, dass die Geschichte immer auf zwei Ebenen stattfindet.

Ich hatte letztens ein interessantes Gespräch mit jemandem, der Scherbenfresser gerne auch auf Conventions leiten möchte. Es ist so, dass bei Scherbenfresser oft Mystery-Geschichten entstehen. Das heißt, du hast zwar einen durchgängigen roten Faden, der Sinn macht, aber es bleiben viele „Loose-Ends“, viele Fäden, die nicht zu Ende geführt werden. Das passiert, weil eben den Leuten am Tisch ein bestimmter roter Faden wichtiger war und sie dem gefolgt sind. Er hat mich gefragt, wie ich damit umgehe: Wie lasse ich Fäden fallen, wie gehe ich mit dem Frust von Spielerinnen und Spielern um, deren Fäden nicht zu Ende geführt wurden?

Um jetzt zu Selbsterkenntnis und Selbstreflexion zurückzukommen: Mein Schlüssel ist, dass du die Story immer auf zwei Ebenen ansetzt. Zum einen hast du diese Bedrohung, z. B. diesen gefährlichen Außerirdischen auf dem fremden Planeten. Auf der anderen Seite spielst du auch immer persönliche Konflikte der Personen an und findest heraus: Was versucht diese Person zu erreichen, was ist ihr persönliches Ziel, auch auf menschlicher Ebene, auch beim inneren Wachstum? Darauf gehst du ein und dann ist es für die Spielerinnen und Spieler am Tisch irrelevant, ob lose Fäden übrigbleiben. Z. B. keiner weiß am Ende, wo das abgestürzte Raumschiff gelandet ist, weil es die Leute nicht beschäftigt. Ich glaube, als Menschen sind wir viel interessierter daran, was in den Menschen passiert und deren persönliche Geschichte zu erleben.

Scherbenfresser spielt auf zwei Ebenen: Auf der einen Seite gibt es die [äußere] Bedrohung, aber auf der anderen Seite spielst du auch persönliche Konflikte der Personen an: Was versucht diese Person zu erreichen, was ist ihr persönliches Ziel?

Mir hat bei deinen Spielen immer gefallen, dass sie sich anfühlen „wie aus einem Guss“ und ich in das Thema richtig eintauchen kann. Bei dem Kartenspiel „Karatte“ zum Beispiel fliegen die Karten Schlag auf Schlag, wie die Fäuste bei einem Karate-Kampf.
Wie gelingt es dir, dass ein Spiel rund und geschlossen wirkt und wie gehst du vor?

Erstmal vielen Dank für deine netten Worte.
Um an dem gerade Gesagten anzuknüpfen: Die menschliche Erfahrung ist mir da ganz wichtig und zu der versuche ich beim Game-Design immer zurückzukehren. Eben habe ich die menschliche Erfahrung in emotionaler oder psychologischer Hinsicht betrachtet und jetzt in der Hinsicht darauf, wie ich es geschafft habe, dass das Spiel geschlossen wirkt.

Ich frage mich: Was macht der Mensch beim Spielen, was will er intuitiv machen? Du hast gerade „Karatte“ angesprochen, bei dem man eigentlich einen Kampf spielt. Zwei Spieler kämpfen gegeneinander Karate und was möchte man dann machen? Man möchte im Endeffekt zuhauen. Deshalb habe ich ein Kartenspiel draus gemacht, bei dem Karten aufeinander geknallt werden und es dann tatsächlich auch einen spiel-mechanischen Effekt hat, die eine Karte auf die andere zu werfen. Daher versuche ich immer zurückzugehen zur menschlichen Erfahrung, zur menschlichen Natur.

Ergonomie ist auch ein Begriff, der mir einfällt. Ich überlege bei der Gestaltung des Materials auch, wie greift der Mensch, wie zeigt der Mensch, wie agiert er, wenn er an bestimmte Dinge denkt.

Ich versuche beim Game-Design zur menschlichen Erfahrung zurückzukehren. Ich frage mich: Was macht der Mensch beim Spiel, was will er intuitiv machen? Zwei Spieler kämpfen gegeneinander Karate – man möchte im Endeffekt zuhauen. Darum habe ich ein Kartenspiel draus gemacht, bei dem Karten aufeinander geknallt werden und es dann tatsächlich einen spiel-mechanischen Effekt hat.

Es geht also nicht nur um Regeln dabei, sondern um die Art und Weise wie man spielt? Du nennst die Ergonomie von Spielmaterial. Bei einem Erzählspiel ist es dann die Struktur der Erzählung?

Ja, aber auch darüber hinausgehend. Du kannst z. B. Scherbenfresser komplett spielen, ohne ein einziges Mal verbal auf die Regel-Ebene zu rutschen. In manchen Erzählspielen ist es geläufig, dass du z. B. sagst „kommen wir zur nächsten Szene“ oder „ich würde gerne eine spezielle Aktion auslösen“ oder „jetzt bist du dran“. Ich habe Scherbenfresser so designt, dass du durch das Spielmaterial alle notwendigen Signale mitteilen kannst.

Es gibt ja als Spielmaterial diese Scherben, die man nach und nach zusammenfügt. Metaphorisch stehen sie für das Gesamtbild an Erinnerungen. Wenn du im Spiel eine Scherbe einem bestimmten Spieler reichst, oder wenn du sie in den offenen Raum hältst, löst es verschiedene Regeln aus und dadurch müssen diese nicht verbalisiert werden. Das heißt also, bei Scherbenfresser ist es nicht nur die Erzählebene, sondern tatsächlich auch die haptische Ebene, die dazu führt, dass das Spiel einen einzigen Fluss ergibt.

Ich habe Scherbenfresser komplett so designt, dass du durch das Spielmaterial alle notwendigen Signale mitteilen kannst, ohne verbal auf die Regel-Ebene zu rutschen.

„Scherbenfresser“ ist ohne Zweifel ein erstklassiges Spiel.
Wenn du zurückblickst, was hast du bei „Scherbenfresser“ richtig gemacht?

Okay, dann lob ich mich jetzt mal selbst. Ich möchte da zwei Dinge benennen.

Zum einen ist es gelungen, diese haptische, intuitive Ebene aufzufangen. Es ist nicht das zugänglichste Spiel im Sinne von „das funktioniert wie alle anderen Spiele“, sondern du musst es lernen. Wenn du es dann aber verstanden hast, dann kannst du es sehr intuitiv spielen. Das verbuche ich auf jeden Fall als großen Erfolg, da mich das oft als Rückmeldung erreicht.

Der andere Punkt ist die Spannungskurve der Geschichte und wie schlüssig die Geschichten sind, die dabei entstehen. Die Leute setzen sich an den Tisch, ohne etwas vorbereitet zu haben und innerhalb von 2-3 Stunden haben sie eine schlüssige Geschichte, weil die Mechanismen sie dabei unterstützen.

Du entwickelst Spiele seit vielen Jahren. Zwar nicht hauptberuflich, aber sehr ambitioniert und mit professionellem Anspruch. Du arbeitest mit Verlagen, Illustratoren und anderen Spielentwicklern zusammen.
Wie kann man sich deinen Arbeits-„Alltag“ als Spielentwickler vorstellen?

Mein Rahmen ist, dass ich das zwar selbständig, aber nebenberuflich mache. Es gibt also nur bestimmte Zeitfenster, in denen ich tätig werden kann, zwei bis drei Termine die Woche. Ich mache viel Brainstorming mit mir selbst: Ideen sammeln, Mechanismen durchspielen im Kopf. Das sind Prozesse, die funktionieren manchmal auch beim Autofahren oder beim Abwaschen oder ähnlichem.

Relativ früh im Prozess des Game-Designs erstelle ich ein Konzept des Materials und stelle mir die Frage nach der Zielgruppe. Ich stelle mir Leitsätze auf, Game-Design-Ziele, zu denen ich immer wieder zurückkehre, um zu kontrollieren, ob ich meine Ziele oder das Spiel verändern muss. Das Entscheidende daran ist, dass das immer bewusste Prozesse sind.

Ich könnte z. B. an einem Punkt sein, an dem ich mich entscheiden muss, ob man in dem Spiel fünf verschiedene mögliche Aktionen hat oder nur zwei. Dann ist wichtig, wer die Zielgruppe ist: Sind es Viel-Spieler, die komplexe Spiele spielen, denen ich fünf Aktionen zutrauen würde oder soll es ein Familienspiel sein, denen gebe ich lieber nur zwei Aktionen. Deshalb ist es wichtig, dass es immer wieder ein bewusster Prozess zurück zu den Game-Design-Zielen ist.

Ich stelle mir zu jedem Spiel Leitsätze auf, Game-Design-Ziele, zu denen ich immer wieder zurückkehre, um zu kontrollieren, ob ich meine Ziele oder das Spiel verändern muss.
Das Entscheidende daran ist, dass das immer bewusste Prozesse sind.

Ist das innere Brainstorming, ein kontinuierlicher Prozess, in dem du den Stand der Spiel-Entwicklung hinterfragst: Passt die Zielgruppe, welches Material, wie umfangreich muss das Spiel sein, wie komplex? Sind das die Kontrollfragen, die den Entstehungsprozess immer wieder lenken?

Genau. Ich entwickele ein erstes Konzept der Regeln. Dann teste ich sehr viel, mit Leuten am Tisch oder vielleicht auch mal alleine. Das Spieltesten nimmt mit 60-70 % der Spielentwicklung die meiste Zeit ein.

Wenn ich eine Vorstellung habe, was das Spiel alles beinhaltet, setze ich mich mit Druckereien oder ähnlichen Produzenten in Verbindung, um herauszufinden, in welchem finanziellen Rahmen sich das aufhält. Ein wichtiger Schritt sind die Illustratoren, mit denen ich das Layout kommuniziere und Preise aushandele.

Als Self-Publisher denke ich dann als Nächstes darüber nach, wie ich das finanziere. Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten: Vorbesteller, Crowdfunding, selbst in Vor-Kasse gehen. Es gehört zum Produkt-Design, dass ich versuche, diese ganzen Schritte in Einklang zu bringen. Bei Scherbenfresser habe ich zum Beispiel eine Vorbesteller-Aktion gemacht, weil ich wusste, dass ich bei einem Erzählspiel die Interessenten selbst über das Internet erreiche. Dafür brauchte ich keine weitergehende Plattform, keinen Verlag oder ähnliches – dadurch ist es finanzierbar.
Mein nächstes Projekt, ein kooperatives Kartenspiel, erfordert eine größere Finanzierung, kann aber auf der anderen Seite ein viel größeres Publikum erreichen. Da habe ich mich dann für ein Crowdfunding entschieden.

Das heißt: Finanzierungsweg, Produktionsweg, Produkt, Illustrationen und so weiter, drehen sich immer wieder um dasselbe Konzept.

Das Spieltesten nimmt mit 60-70 % der Spielentwicklung die meiste Zeit ein.

Mir scheint, dass die Zielgruppe einen wichtigen Einfluss darauf hat, was das Spiel kosten darf.

Ja, stimmt. Auf der einen Seite auf jeden Fall, auf der anderen Seite halte ich mich bisher in einem Markt auf, mit kleinerem Kundenkreis, der aber bereit ist, mehr für das Produkt zu zahlen, weil es sich um exklusive Produkte handelt.

Du hast gesagt, du arbeitest viel im Team. Du hast Illustratoren genannt, Druckereien, Spiele testen. Also, nach dem ersten Brainstorming ist das für dich immer Teamwork?

Total. Es gibt einige Game-Designer, mit denen ich mich regelmäßig treffe und ich kann dir nach den Sessions nicht mehr sagen, wie viel ich an seinem Spiel mitgeschraubt habe und er an meinem Spiel. Manchmal teilt man sich einfach nur mit, wie man das Spiel selbst empfunden hat. Das ist auch das Wichtigste. Man kritisiert das andere Spiel, konstruktiv natürlich. Die Verantwortung, daraus dann etwas zu machen, liegt immer beim Game-Designer selbst. Ich erwarte als Game-Designer keine Hinweise von dem anderen, wie ich es besser machen soll, sondern ich bin sehr glücklich, wenn er mir einfach nur sagt, was für ihn nicht funktioniert.

Du hast gesagt, du schaffst es nebenberuflich mehrmals die Woche daran zu arbeiten. Kann man sagen, dass es oft länger als ein Jahr braucht, bis ein Spiel fertig ist?

Je nachdem. Bei „Karatte“ hat vielleicht gerade ein Jahr gereicht. An Scherbenfresser habe ich zwei Jahre gearbeitet. Bei „Chosen“, an dem ich gerade arbeite, es ist jetzt fast ein Jahr und ich rechne noch mindestens mit einem halben Jahr. Das Konzept dafür lag aber eine Weile. Ich hatte das vor einem Jahr schon mal in der Hand und dann landete es in der Schublade. Kleiner Hinweis am Rande: Das passiert im Game-Design oft, dass man ein Spiel anfängt zu entwickeln und dann merkt, dass es gerade nicht die richtige Zeit dafür ist. Dann liegt es in der Schublade. Jetzt ist der Moment, dass ich „Chosen“ wieder auspacken kann, weil mich das Thema damals schon sehr berührt hat.

Dann ist die „Schublade“ ein wichtiges Arbeitswerkzeug für dich?

Ja, die Schublade ist sehr wichtig für Prototypen. Auch für Mechanismen. Oft entwickelt man Mechanismen, baut sie in ein Spiel ein. Aber nach ein paar Test-Abenden löscht man sie wieder raus, weil sie doch nicht passen. Auch diese Mechanismen landen dann in der Schublade und werden vielleicht irgendwann selbständige Spiele.

Wenn man Interesse hat und tiefer einsteigen will: Wie kommt man in Kontakt mit der Welt der Spielentwickler, welche Orte oder Veranstaltungen kann man besuchen?

Ich selbst treibe mich auf verschiedensten Spiele-Conventions rum und erlebe, dass man da auch andere Autoren vor Ort treffen kann. Es gibt aber auch spezielle Spieleautoren-Messen, wie z. B. in Haar bei München.

Der einfachste Weg ist natürlich übers Internet. In Foren oder auf Discord-Servern kann man bestimmt ohne weiteres Spieleautoren ausmachen.

Wie kann ich mein erstes Spiel entwickeln, was soll ich tun? Womit kann ich anfangen?

Tatsächlich habe ich einen Freund im Umfeld, der das gerade zum ersten Mal angeht. Er lauscht immer sehr genau, wenn wir uns als Spieleautoren austauschen und uns gegenseitig kritisieren. Er hat schon ein wenig Angst vor diesen Momenten, weil der da viel Kritik auszuhalten hat. Es ist auf jeden Fall sehr wichtig, die Kritik nicht persönlich zu nehmen und dankbar zu sein für konstruktive Kritik. Versuche nicht, die Wahrnehmungen deines Gegenübers zu korrigieren oder dich zu rechtfertigen. Man lernt sehr viel Aushalten, Aufnehmen und nicht direkt reagieren, sondern es einfach auf sich wirken lassen.

Es ist sehr wichtig, die Kritik an deinen
Spielideen nicht persönlich zu nehmen und
dankbar zu sein für konstruktive Kritik.

Wie du anfängst, ein Spiel zu entwickeln ist die Frage, wie du tickst. Du musst rausfinden, was dein Zugang zur Spielentwicklung ist.

Ich fange im Regelfall immer mit einer Geschichte an, die mich interessiert. Ich will eine Geschichte erzählen und dann bin ich wieder bei der Frage: Was tut denn ein Mensch, der diese Geschichte erlebt? Welches Material passt dazu? Von da aus entwickelt sich dann mein ganzer Strang. Die Frage wäre also: Was reizt dich daran? Reizt es dich, einen neuen Mechanismus auszuprobieren oder zu optimieren? Ist es vielleicht auch eine Geschichte oder sind das ganz andere Aspekte? Ist ein bestimmtes Material? Wolltest du schon immer mal ein Spiel mit einem 12-seitigen Würfel machen? Im Endeffekt musst du dich auf das einlassen, was dich führt.

Computerspiele sind heute ein riesengroßer Markt. Hast du dich im Computerspiel-Bereich schon mal versucht?

Ich habe das Gefühl, dass es im Videospiel-Bereich eine viel höhere Einstiegshürde gibt. Man muss es noch professioneller betreiben, vielleicht hauptberuflich.

Wir haben für Scherbenfresser eine Audio-Story gemacht. Das ist ein Amazon-Skill, also eine interaktive Scherbenfresser-Story, die du spielen kannst. Das geht einfach über eine App oder Website. Das ist am nächsten dran, was ich aktuell wie ein Computerspiel gemacht habe. Es war für mich ein ganz neues Feld.

Ich würde gerne noch weiter einsteigen. Vor allem das Storytelling ist eine Sache, die ich mir sehr gut vorstellen kann oder die Visionen eines Spiels mit Programmierern und Grafikern zu teilen. Ich könnte mir nicht vorstellen, deren Arbeit selbst zu übernehmen, aber ich denke, es geht auch viel um Stimmigkeit. Ich bekomme oft die Rückmeldung von Spielern und anderen Spieleautoren, dass sie eben dieses Gefühl von Stimmigkeit bei meinen Spielen haben: Vom Material, dem Thema, der Gestaltung und der Handlungen, die man am Spieltisch vollführt. Ich glaube, das könnte etwas sein, was ich auch ins Videospiel gut übertragen kann.

Gianni, vielen Dank für deine Zeit und viel Erfolg für deine weiteren Spiele!

(Titelbild: Unsere fragile Moderne: Der Schrei (Jürgen Thenent, nach Munch), geringfügig geschnitten)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert