Die Dozentin in einem internen Führungs-Seminar richtete abschließend einen fast verzweifelten Appell an uns, ihre Zuhörerschaft: „Seid unbequem! Es wird keine Veränderung geben, solange ihr die Mißstände kompensiert.“.
Ein guter Rat. Genauso wie ich nicht nicht-kommunizieren kann und schweigen oft implizite Zustimmung bedeutet, so kann ich auch nicht positionslos sein, wenn ich zu den Stakeholdern gehöre – ich kann höchstens implizit billigen, was andere entscheiden.
Nicht immer geht es dabei um dramatische Entscheidungen. Natürlich kann es im Extremfall auch um Menschenleben gehen (falls man auf der Intensivstation arbeitet, geht es sogar im Normalfall um Menschenleben), aber meistens geht es um scheinbar triviale Dinge. Lohnt es sich da viel aufhebens drum zu machen und „unbequem“ zu sein?
Franz Kafka hat in seiner Kurzgeschichte „Auf der Galerie“ beschrieben, wie man ein und die selbe Szene aus zwei Blickwinkeln betrachten kann: die Kunstreiterin im Zirkus als (a) ein gepeinigtes Mädchen, mit Gewalt vom Direktor zu Höchstleistungen angetrieben, oder als (b) eine ambitionierte Künstlerin, die vom Direktor umhegt und beschützt wird.
Im Fall (a) möchte man einschreiten und kann sich dabei als Held fühlen, im Fall (b) hat man höchstens ein dumpfes Gefühl, das da was nicht stimmt. Kafka lässt uns im Unklaren, welche Perspektive die „richtige“ ist – ich glaube, es sind beide richtig: die Kunstreiterin wird vielleicht mit (subtiler) Gewalt zur Höchsleistung angetrieben, sie ist aber gleichzeitig Stolz auf ihre Leistung (auch wenn sie darunter leidet und die Leistung nicht ganz freiwillig erbracht wurde).
Übertragen auf die Geschäftswelt erlebe ich oft, wie wir (ich möchte mich da nicht ausnehmen) …
- auf der einen Seite mit entscheiden aber andererseits nicht die Verantwortung dafür tragen wollen
- über die Arbeitslast stöhnen, aber jeden Tag freiwillig 10+ Stunden arbeiten („ich kann meine Kunden nicht im Stich lassen …“)
- mit Führungskräften unzufrieden sind, aber gleichzeitig bemüht sind ihre Unzulänglichkeiten auszugleichen
- Probleme der schlechten Führung anlasten, aber gleichzeitig von eben dieser Führung Lösungen erwarten
- über Mangel an qualifizierten Mitarbeitern klagen, aber keine Zeit haben, neue Mitarbeiter einzuarbeiten
- und so weiter
Auf der einen Seite leiden wir unter einem Mißstand, auf der anderen Seite finden wir „Workarounds“, die uns erlauben weiterzumachen, ohne den Mißstand zu beheben. Unbequem sein heisst, sich diesen „Workarounds“ zu verweigern.
Unbequem zu sein ist nicht einfach und vor allem nicht bequem, denn es bedeutet immer sich zu exponieren und gegen den Strom zu schwimmen. Ich muss die Hand heben, ich muss „Nein“ sagen, ich muss auch manchmal mit dem Finger auf andere zeigen. Besonders schwer ist es, wenn ich neu im Unternehmen bin, befristet angestellt oder sogar nur entliehen, oder in einer anderweitig schwachen Position.
Warum soll ich es trotzdem machen? Warum rät meine Trainerin für Führung zum „unbequem sein“? Weil wir nur dadurch Verbesserungen erreichen können. Wenn das Haus brennt ist es egal, ob keiner drüber redet, am Ende brennt es trotzdem ab. Anders gesagt: wenn ich über Missstände rede, gibt es wenigstens die Chance auf Verbesserung. Ich muss mich also fragen: leide nur ich (vielleicht habe ich den falschen Job), oder leidet meine Organisation (z. B. durch unnötige Risiken, mangelnde Nachhaltigkeit, Innovation oder Effizienz). Wenn die Organisation leidet, dann habe ich gute Gründe unbequem zu sein. Gute Führungskräfte wissen das auch und missverstehen daher „unbequeme“ nicht als „schlechte“ Mitarbeiter.
Verbesserung bedeutet, dass irgendwas nicht optimal ist und (zum besseren) verändert wird. Veränderung passiert nie reibungslos, es gibt es nach meiner Erfahrung immer Gewinner UND Verlierer. Und diejenigen, die sich zu den Verlierern zählen, tun mir selten den Gefallen und räumen von allein den Weg. Das muss nicht heißen, dass ich immer auf Konfrontation gehe, aber ich muss damit rechnen, dass sachliche Argumente allein nicht ausreichen. Damit kommen wir dann aber schon zu einem viel weitreichenderen Thema: wie erreiche ich Veränderung, Change-Management und so weiter.
Grundlage bleibt der gute Rat meiner Trainerin: „Seid unbequem!“.