Selten erlebe ich das Vergnügen, mehrere Experten zu finden, deren Ansichten sich unvereinbar diametral gegenüberstehen. Natürlich werden im öffentlichen Diskurs oft scharfe Thesen geäußert, um Aufmerksamkeit zu gewinnen. Aber in differenzierten Fachdiskussionen geschieht das sehr viel seltener. Ein schönes Beispiel war für mich die Disukussion über den sogenannten Turing-Test, die Jahrzehnte lang und so kontrovers war, dass ganze Bücher damit gefüllt wurden.
Heute bin ich auf zwei gegensätzliche Ansätze im Themen-Bereich „Führung“ gestoßen, die mich total begeistert haben.
These 1: Leistung führt zu Zufriedenheit
Fredmund Malik, Managementexperte aus St. Gallen meint …
„Gib Menschen die Möglichkeit, eine Leistung zu erbringen und viele […] werden ein bemerkenswertes Maß an Zufriedenheit erlangen.“
und weiter
„Der […] Irrtum ist die Meinung, dass Zufriedenheit zuerst zu schaffen sei und dann erst Leistung erwartet werden könne.“ [1]F. Malik, Führen Leisten Leben: Wirksames Management für eine neue Welt. Campus Verlag, 2019.
These 2: Glück führt zu Leistung
Steffi Triest (Management Beraterin) und Jan Ahrend (Coach) meinen …
Die vorherrschende Meinung ist, dass man sich besonders anstrengen muss, um erfolgreich zu sein, und im Anschluss das daraus resultierende Glück genießen zu können. Man muss also erst Erfolg haben, um hinterher glücklich zu sein.
Inzwischen ist aber belegt, dass Ursache und Wirkung hier vertauscht worden sind.
Glückliche Menschen sind erfolgreicher.
[…]
Das Glück der Mitarbeitenden wird somit auch für Unternehmen zum wirtschaftlichen Faktor.[2]J. Ahrend und S. Triest, Agile Führung: Mitarbeiter und Teams erfolgreich führen und coachen. MITP-Verlags GmbH & Co. KG, 2023.
Äpfel mit Äpfeln – oder doch eher Birnen?
Man könnte nun sagen: „Naja, Glück und Zufriedenheit ist ja nicht unbedingt dasselbe. Ist das nicht ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen?“
Meine erste Reaktion war auch, dass sich die Ansätze nicht grundsätzlich ausschließen. Vielleicht also nur ein Missverständnis? Die Argumentationen machen jedoch deutlich, dass sich hier Gräben auftun.
Malik stemmt sich ganz gezielt gegen den, wie er ihn nennt, „Pursuit of Happiness“-Ansatz …
[Als Beispiele für Missverständnisse und Irrlehren im Management] greife ich zwei Denkweisen heraus, gewissermaßen als Pole eines Kontinuums, die ich besonders illustrativ für fehlgeleitete und schädliche Managementauffassungen halte.
In seiner extremsten Ausprägung unterstellt dieser Ansatz, dass der Hauptzweck von Organisationen, besonders der Wirtschaftsunternehmen, darin bestehe, die für sie arbeitenden Menschen zufrieden zu machen und wenn möglich sogar glücklich.
… und empört sich über dessen Verbreitung …
Derzeit finden sich in den Medien allen Ernstes Berichte über ‘Feel Good-Management’.[3]F. Malik, Führen Leisten Leben: Wirksames Management für eine neue Welt. Campus Verlag, 2019.
Hier kommt das Wort „glücklich“ vor (jedoch nicht „Glück“, was noch eine Nuance anders gedeutet werden könnte), sogar noch als Steigerung von „Zufriedenheit“. Bei Triest und Ahrend wird das Wort „glücklich“ mit „Glück“ gleichgesetzt.
Sie räumen zunächst ein …
Unternehmen haben nicht das Ziel, Menschen glücklich zu machen […]
… um dann aber das „Feed Good Management“ zu unterstützen …
Es gibt aber zumindest einige Start-Ups, die bereits einen Feel Good Officer im Vorstand haben.
Er trägt die Verantwortung für das Wohlergehen und im weitesten Sinne auch das Glück der Mitarbeiter. Von traditionell geprägten Personen wird so etwas gerne belächelt.
Der Zusammenhang ist jedoch zweifelsfrei belegt […][4]J. Ahrend und S. Triest, Agile Führung: Mitarbeiter und Teams erfolgreich führen und coachen. MITP-Verlags GmbH & Co. KG, 2023.
Ist mit diesen „traditionell geprägten Personen“ vielleicht auch Herr Malik gemeint?
Und was sagt uns das jetzt?
Ich möchte beiden Seiten unterstellen, dass ihre Ansicht auf viel Erfahrung beruhen und sie nicht nur „so daher reden“. Wer hat nun Recht? Ich weiß es nicht. Das Beispiel zeigt aber sehr deutlich, dass die Dinge oft nicht so klar und eindeutig sind. Es lohnt sich, die Dinge von mehreren Seiten zu betrachten und auch die Ansicht von Experten mit gesundem Zweifel zu betrachten.
Titelbild: „Sechsmal Jens: Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ (Jürgen Thenent)